Animalisch denken


Ein Leben ohne Filter
Von V. Vilkrée (Die Wiener Zeitung)

Im Alter von 40 Jahren stellte man mir die Diagnose Asperger-Syndrom. Dieses Syndrom gehört zu den Autismus-Spektrum-Störungen, es wurde erst in den frühen 1990er Jahren international anerkannt. Im Unterschied zu niedrig- oder hochfunktionierendem Autismus, gibt es generell keine Sprachverzögerung in der frühen Kindheit, die sozialen Schwierigkeiten fangen oft im Kindergarten an.

Sozialisation ist eine Fremdsprache für mich. Durch Erfahrung habe ich gelernt, soziale Interaktionen zwischen Menschen zu übersetzen, aber nur, wenn ich in der Situation nicht involviert bin. Wie ein Wissenschafter, der Insekten beobachtet. Ist dies nicht der Fall, so werde ich schnell von den Datenflüssen, die ich verarbeiten muss, um zu einer Konklusion zu kommen, überwältigt.

Dies ist ein nur Beispiel der vielen Schwierigkeiten, Menschen zu treffen. Die benötigte Distanz für tagtägliche Interaktionen wird meistens falsch interpretiert – als Arroganz, Selbstgefälligkeit, Verachtung, Unaufrichtigkeit, pathologische Schüchternheit. Und da die Ursachen für diese Fehlfunktion nicht sichtbar sind, wird man als “normale” Person, die sich unangemessen verhält, angesehen.

Zusätzlich multiplizieren sich diese Missverständnisse wegen vieler anderer typischen Behinderungen: die Unfähigkeit, ein “Standard”-Gespräch zu führen oder die Stimme des Gesprächspartners vom Umgebungslärm zu unterscheiden, die Schwierigkeit, Blickkontakt herzustellen, etc – allesamt hervorgerufen durch Übersensibilität.

Nichtautistische Menschen merken nicht, wie aufdringlich sie durch ihr Verhalten sind. Indem sie bei Interaktionen integrierte Codes verwenden, haben sie die Sensibilität verloren, was sie verursachen. Sie nehmen davon nur sehr wenig wahr. In dieser Hinsicht würde ich sagen, dass ich mich Tieren viel näher fühle: die geringste Bewegung, das leistete Geräusch, ungewohnte Gerüche rund um mich werden – unbewusst oder nicht – als potentielle Gefahr wahrgenommen.

Aber offensichtlich hat es auch mit der Übersensibilisierung meiner Sinne zu tun, oder, genauer gesagt, mit dem Mangel an Filtern. Nichtautistische Menschen besitzen für gewöhnlich Wahrnehmungs- und kulturelle Filter, von denen sie nicht mal etwas wissen und durch die sie sich an ihre Umwelt anpassen. Umgebungslärm, Gerüche, Licht nehmen sie dadurch nicht direkt wahr. Im Gegensatz dazu erreicht Autisten alles sehr intensiv.

Autisten denken animalisch

Die US-Forscherin Temple Grandin meint, dass die Gedankenwelt von Autisten derjenigen von Tieren ähnlich sei. Grandin hat die These anhand ihrer eigenen Erfahrungen entwickelt. Sie ist nämlich selbst an Autismus erkrankt.
Heute lehrt Grandin selbst an der Colorado State University im Fach Tierwissenschaft, eine gewisse Distanz zur Sprache ist ihr dennoch geblieben. “Ich denke in Bildern. Meine Muttersprache ist eigentlich meine Zweitsprache”, betont sie.
Grandin behauptet, dass sie aufgrund ihrer Krankheit besser abschätzen kann, wie Tiere empfinden und wovor sie Angst haben, in gewisser Weise denke sie selbst wie ein Tier, meint sie.
Quelle: ORF.at