Hirnschädigung und Selbstkontrolle

Mit einem Tumor im Kopf

Eine Hirnschädigung kann mitunter dazu führen, dass der Betroffene zum Straftäter wird.
Kurz nach seinem 40. Geburtstag entwickelte M. plötzlich ein verstärktes Interesse für Pornografie – auch mit Kindern. Das war ungewöhnlich, denn zuvor hatte er keine pädophilen Neigungen gezeigt. Irgendwann begann er seine präpubertäre Stieftochter zu belästigen. Dadurch flog er auf und wurde wegen Kindsmissbrauch verurteilt.

Wenig später beklagte sich M. über starke Kopfschmerzen. Ein MRI ergab, dass in der Hirnrinde über seinem rechten Auge (orbitofrontaler Kortex) ein riesiger Tumor wuchs. Nachdem dieser entfernt worden war, verschwand auch M.s sexuelles Interesse an Kindern, und er durfte zurück nach Hause. Nach einigen Monaten keimte diese Neigung aber erneut auf. Ein weiteres MRI zeigte, dass der Tumor wieder gewachsen war. Nachdem er abermals entfernt worden war, blieb M. unauffällig.

Aus der Literatur sind mehrere solcher Fälle bekannt, bei denen Menschen mit einem Tumor oder nach einer Kopfverletzung mit bleibenden Hirnschäden kriminell werden, ohne vorher auffällig gewesen zu sein. Nun haben Forscher um Michael Fox von der Harvard Medical School in Boston sich die Hirnverletzungen von 17 bereits publizierten Fällen angeschaut und gezeigt, dass dabei zwar unterschiedliche Hirnregionen betroffen waren, aber dass diese alle auf das gleiche funktionale Netzwerk wirkten.

Die beschriebenen Personen waren wegen verschiedener Delikte verurteilt worden, einige für Betrug oder Diebstahl, die Mehrheit aber wegen Körperverletzung, Vergewaltigung oder Mord. Die Hirnschäden lagen jeweils in unterschiedlichen Regionen. Um zu sehen, ob diese miteinander in Verbindung standen, verwendeten die Forscher eine Methode namens «lesion network mapping». Dabei wird untersucht, an welchem funktionalen Netzwerk eine betroffene Region im gesunden Gehirn beteiligt ist. Ein solches Netzwerk besteht jeweils aus verschiedenen Regionen, die bei bestimmten Tätigkeiten verstärkt miteinander kommunizieren und die auch im Ruhezustand gemeinsam aktiv sind.

Mit der Methode hatten die Forscher bereits erklärt, wie Hirnschäden, die teilweise weit voneinander entfernt sind, aber im gleichen funktionalen Netzwerk liegen, jeweils die gleichen Symptome verursachen können, zum Beispiel Halluzinationen oder einen Bewusstseinsverlust.

Nun zeigten sie, dass die Hirnschäden der kriminell Gewordenen zu einem Netzwerk gehören, das zwei Areale im Stirnhirn einschliesst sowie den vorderen Schläfenlappen. Diese spielen bei der Impulskontrolle sowie bei sozialem und sexuellem Verhalten eine Rolle. Ausserdem war das Netzwerk mit Regionen assoziiert, die bei moralischen Fragestellungen aktiv werden.

Quelle: Neue Zürche Zeitung