Das Ich als Netzwerkphänomen

alter-ego

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Von Manuel Stelzl
Wissen wir überhaupt, was wir damit meinen, wenn wir von unserem „Ich“ sprechen?
Das Ich ist das, wofür sich jemand hält – wie etwa Willensakte, Erinnerungen, Empfindungen, Überzeugungen, Verhaltenseinstellungen usw. Eines der erstaunlichsten Merkmale des Ich ist wohl die Kontinuität bzw. Einheit unserer Selbstwahrnehmung.
Aber warum sollten wir real sein? Vielleicht ist es bloß unser Gehirn, das diese erlebte Einheitlichkeit erzeugt?
Führende Bewusstseins- und Hirnforscher wie Gerhard Roth, Wolf Singer und Thomas Metzinger stimmen alle darin überein, dass in unserem Gehirn lediglich ein evolutionär bedingtes Ich-Gefühl erzeugt wird.
Bewusstsein ist „das Erscheinen einer Welt“, sagt der renommierte Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger. In Wahrheit gäbe es kein Selbst oder Ich, sondern lediglich ein durch unser Gehirn erzeugtes „Selbstmodell“. Dieses Modell können wir selbst nicht erkennen, da die Wirklichkeit, die es erzeugt absolut glaubhaft für uns sein muss. Der Tunnel, durch den wir Wirklichkeit erleben, muss daher „transparent“ bleiben, so Metzinger. Unser Gefühl für Vergangenheit und Gegenwart, für Endlichkeit und Unendlichkeit, für räumliche Ausdehnung und Geschwindigkeit, von Ich und Nicht-Ich, unser Erinnerungsvermögen und unser Erleben eines Jetzt sind Teile jenes Wirklichkeitsmodells in unserem Gehirn, dem auch unser Selbstmodell angehört. Sein Zweck ist unser Überleben.
Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen, wobei jedes Neuron mit ca. 10.000-15.000 weiteren Neuronen interagiert. Seine Funktionsweise sollte man sich vorstellen wie ein Orchester, das perfekt aufeinander abgestimmt ist, bloß ohne Dirigenten, sagt der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer. Aus dieser Sicht ist Bewusstsein ein gewaltiges neuronales Netzwerkphänomen. Gemeint sind Neuronenverbände bzw. Hirnareale, die schließlich ein „Inneres Gesamtbild“ erzeugen. Wie das genau funktioniert ist bis heute ungeklärt. Selbstbewusstsein sei jedenfalls nicht so einfach lokalisierbar, sondern vielmehr das Resultat des Zusammenspiels jener Neuronenverbände, die jeweils ihren Beitrag zum Ich-Gefühl leisten.

Quelle: Der Aufsatz ist ein Auszug aus dem Artikel:”Gibt es ein Ich im Gehirn?” von Manuel Stelzl in “Abenteuer Philosophie”, Ausgabe 2, Graz-2014