Der österreichische Minderwertigkeitskomplex

von Peter Strasser

Um Österreichs universale Anmutung kommt niemand herum, und trotzdem leidet das Land darunter, weltweit gesehen Provinz zu sein. Politisch herrschen Biedersinn und Hysterie, doch fix ist nix, ausser dem Tod.

Österreich ist ein überdurchschnittlich schönes, sympathisches, geistreiches und zugleich durch und durch durchschnittliches Land, ein treubiederes Mitglied der Europäischen Union und eine regelrecht fad zu nennende Demokratie, also eine, die samt Korruption und Parteienproporz bestens funktioniert: gesegnet mit relativem Wohlstandsunbehagen und, bei rundum reichlich siechen Ökonomien, mit relativer Armutsfallenverweildauer.

Österreich ist ein Land mit hoher, ja höchster Kultur, das seine Raubkunst siebzig Jahre nach Kriegsende zum grössten Teil schon wieder an die jüdischen Erben und Erben der Erben rückerstattete. Unsere Wiener Museen sind exzellent besucht, die Expositionen exzellent konzipiert, die exzellente Staatsoper – an der man, wenn auch fast nie, die bereits jetzt unsterbliche Primadonna, Kammersängerin (ursprüngliche Ukrainerin) Anna Netrebko, antrifft – ist zu neunundneunzig Prozent ausgelastet.

Dennoch leidet Österreich irgendwie unter dem Gefühl, weltweit gesehen eher Provinz zu sein.

Wir haben eine Literaturnobelpreisträgerin, Elfriede Jelinek, die Hunderte Seiten lang absatzlose dramatische Texte schreibt, in denen die Österreicher meistens Nazis oder noch Schlimmeres sind, und dazu die literarische Begleitmusik des Weltliteraten Thomas Bernhard, der uns attestieren musste, nicht nur ein Volk der Nazis, sondern ausserdem geistesgestört zu sein.

So sind wir, nix is fix, ausser dem Tod, über den in Österreich seit den Zeiten des lieben Augustin, der in die Pestgrube gefallen und unbeschädigt wieder herausgekrabbelt sein soll, viel geschrieben und nachgedacht wurde, so auch von unserem seligen Weltpopstar Falco, vulgo Johann «Hans» Hölzel, der allen die Frage stellte, die uns das metaphysische Nackenhaar steif werden liess: «Muss ich denn sterben, um zu leben?»

Die Antwort darauf kann im Land des Sigmund Freud nur lauten: Ja, ja, ja – dreimal ja! Und dann auch wieder: Nein, nein und abermals nein! Seinerzeit, 2011, hat unsere oberösterreichisch gebürtige Finanzministerin anlässlich einer EU-Befragung des Inhalts, was sie mit dem sphinxischen Satz meine: «Die Zeit, die wir uns gegeben haben, ist shortly», prompt geantwortet: «. . . shortly, without von delay». Erst leben, dann sterben, so machen wir’s in Österreich.

Zugegeben, weder in Ober- noch in Niederösterreich wird ansässiges Englisch gesprochen, wohl aber wird in Kärnten, einem notorisch verschuldeten Bundesland, seit Jörg Haider und seine gloriose «Buberlpartie» dort hausten, in einigen Winkeln noch immer Slowenisch geredet. Das juckt die Kärntner Abwehrkämpferseele bis heute, weswegen auch die Kärntner Volkspartei nicht wirklich wollte, dass die slowenische Volksgruppe in der reformierten Landesverfassung namentlich erwähnt wird. Aber keine Sorge, jetzt steht sie doch drinnen, und das ist gut so. Verbissen gekämpft wird bei uns nur im Sport, zum Glück und Ruhm des Landes, denn nur so gelingt es uns, immer fast beinahe gewonnen zu haben. Gott ist mit uns!

Das bringt mich gleich zu den Anfechtungen durch die moderne Wissenschaft und den Koran, die uns nichts anhaben können, denn als eingeschworene Taufscheinkatholiken lieben wir unsere Kirchenglocken.
Das bringt mich jetzt direkt statt zum Wiener Life-Ball zu den Burgenländerwitzen, die in Österreichs flachster östlicher Gegend rund um den flachen Neusiedlersee gedeihen, und zwar zu einem, der demonstriert, dass man sich bei uns nicht nur von den Gebetsmühlen des Genderns, sondern darüber hinaus von der Hauptstädterarroganz im Norden mit Humor zu distanzieren weiss: «Wieso sind die Burgenländerwitze immer so kurz? Damit sie die Wiener auch verstehen.» Na also.

Mag sein, darüber können vielleicht nur diejenigen lachen, die’s was angeht, doch akkurat darin verbirgt sich das grundexistenzielle Problem unserer immerwährenden Neutralität, da kann die Welt untergehen, wir werden fein dastehen und musterschülerhaft sagen: «’tschuldigung, das geht uns im Grunde wirklich nichts an!» Wir Österreicher sind im Grunde unseres friedfertigen Herzens gegenüber allen anderen Österreichern neutral, sollen sie doch flach sein, wie sie wollen, oder – soweit es die Gebirgsmenschen im Westen betrifft, «deren Sprache du nicht verstehst» (Marianne Fritz) – daherknödeln, was sie wollen. Aber, fragen manche Fundamentalisten der Scholle, reicht das schon hin, um eine Heimat im Vollsinn des Wortes behaupten zu dürfen? Hm, hm und nochmals hm?

Als Philosoph indessen behaupte ich, dass jede Heimat immer nur Heimat des Menschen sein kann, ob sie sich im burgenländischen Erdloch, wo der Wein vor sich hin säuert, selbstredend auf dem Niveau der Weinbeisserweltspitzenklasse, oder im lawinentreibenden Schneekanonendonner unserer weltberühmten Skiregionen verkörpert. Heimat ist entweder Weltheimat oder gar keine. Als Kronzeugen zitiere ich (man ist als österreichischer Patriot ja auch Weltbürger) trotz – oder gerade wegen! – britischer Brexit-Schmach kurzerhand den Dubliner James Joyce, der in der Elementarklasse auf das Vorsatzblatt seines Geografiebuches schrieb: «Irland, Europa, die Welt, das All».

Und nein, ich schweife nicht vom Thema ab. Vielmehr doziere ich gerade über jenes Österreich, das entweder nichts weiter ist als eine Summe überdurchschnittlich durchschnittlicher Fakten, mit denen wir bis zur Bedeutungslosigkeit vertraut sind und die uns gerade deshalb fremd bleiben wie die Steine auf dem Mars – oder sie verkörpern jene Tiefe, Doderers Tiefe der Zeiten, Musils Tiefe der Räume und Bürokratien, worin das Nächste und Fernste zu einer Seelenlandschaft verschmelzen: Österreich, Europa, die Welt, das All!

Peter Strasser ist emeritierter Universitätsprofessor, er unterrichtet Philosophie an der Universität Graz.