Die Welt als Wahrnehmung

Die Philosophie der Freiheit
Rudolf Steiner (1861-1925) war ein österreichischer Publizist und Esoteriker, er begründete eine spirituelle Weltanschauung, die an die idealistische Philosophie anschließt. Laut der Philosophie der Freiheit werde menschliche Freiheit nur möglich, wenn der Mensch die Wesenheit der Dinge erkennen könne. Hierzu dürfe das Wesen der Dinge nichts dem Erkennenden Äußerliches, Fremdes sein, sondern er müsse es innerhalb seines Denkens selber auffinden können (Exzerpt)

Wenn ich an dem einen Ende einer Allee stehe, so erscheinen mir die Bäume an dem andern, von mir entfernten Ende kleiner und näher aneinandergerückt als da, wo ich stehe. Mein Wahrnehmungsbild wird ein anderes, wenn ich den Ort ändere, von dem aus ich meine Beobachtungen mache. Es ist also in der Gestalt, in der es an mich herantritt, abhängig von einer Bestimmung, die nicht an dem Objekt hängt, sondern die mir, dem Wahrnehmenden, zukommt. Es ist für eine Allee ganz gleichgültig, wo ich stehe. Das Bild aber, das ich von ihr erhalte, ist wesentlich davon abhängig. Ebenso ist es für die Sonne und das Planetensystem gleichgültig, dass die Menschen sie gerade von der Erde aus ansehen. Das Wahrnehmungsbild aber, das sich diesen darbietet, ist durch diesen ihren Wohnsitz bestimmt.
Diese Abhängigkeit des Wahrnehmungsbildes von unserem Beobachtungsorte ist diejenige, die am leichtesten zu durchschauen ist. Schwieriger wird die Sache schon, wenn wir die Abhängigkeit unserer Wahrnehmungswelt von unserer leiblichen und geistigen Organisation kennen lernen. Der Physiker zeigt uns, dass innerhalb des Raumes, in dem wir einen Schall hören, Schwingungen der Luft stattfinden, und dass auch der Körper, in dem wir den Ursprung des Schalles suchen, eine schwingende Bewegung seiner Teile aufweist. Wir nehmen diese Bewegung nur als Schall wahr, wenn wir ein normal organisiertes Ohr haben. Ohne ein solches bliebe uns die ganze Welt ewig stumm. Die Physiologie belehrt uns darüber, dass es Menschen gibt, die nichts wahrnehmen von der herrlichen Farbenpracht, die uns umgibt. Ihr Wahrnehmungsbild weist nur Nuancen von Hell und Dunkel auf. Andere nehmen nur eine bestimmte Farbe, zum Beispiel das Rot, nicht wahr.

Es gibt keine Farbe, wenn keine gesehen, keinen Ton, wenn keiner gehört wird.
Weil wir außerhalb unseres Organismus Schwingungen der Körper und der Luft finden, die sich uns als Schall darstellen, so wird gefolgert, dass das, was wir Schall nennen, nichts weiter sei als eine subjektive Reaktion unseres Organismus auf jene Bewegungen in der Außenwelt. In derselben Weise findet man, dass Farbe und Wärme nur Modifikationen unseres Organismus seien. Und zwar ist man der Ansicht, dass diese beiden Wahrnehmungsarten in uns hervorgerufen werden durch die Wirkung von Vorgängen in der Außenwelt, die von dem, was Wärmeerlebnis oder Farbenerlebnis ist, durchaus verschieden sind. Wenn solche Vorgänge die Hautnerven meines Körpers erregen, so habe ich die subjektive Wahrnehmung der Wärme, wenn solche Vorgänge den Sehnerv treffen, nehme ich Licht und Farbe wahr. Licht, Farbe und Wärme sind also das, womit meine Sinnesnerven auf den Reiz von außen antworten. Auch der Tastsinn liefert mir nicht die Gegenstände der Außenwelt, sondern nur meine eigenen Zustände.

Das Auge und das Ohr sind sehr komplizierte Organe, die den äußeren Reiz wesentlich verändern, ehe sie ihn zum entsprechenden Nerv bringen. Von dem peripherischen Ende des Nervs wird nun der schon veränderte Reiz weiter zum Gehirn geleitet. Hier erst müssen wieder die Zentralorgane erregt werden. Daraus wird geschlossen, dass der äußere Vorgang eine Reihe von Umwandlungen erfahren hat, ehe er zum Bewusstsein kommt. Was da im Gehirne sich abspielt, ist durch so viele Zwischenvorgänge mit dem äußeren Vorgang verbunden, dass an eine Ähnlichkeit mit demselben nicht mehr gedacht werden kann. Was das Gehirn der Seele zuletzt vermittelt, sind weder äußere Vorgänge, noch Vorgänge in den Sinnesorganen, sondern nur solche innerhalb des Gehirnes.