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KOMMUNISTISCHE GRAVITATION

Robert Sommer für Die Wiener Nachrichten

Excerpt from the book „Identity Lexicon“ by Robert Sommer – chief editor of Vienna street newspaper “Augustin”- presents story of his personality transformation – from participation in communist activities, including cooperation with Soviet communists and visits to Moscow – till his later liberal and denying any authorities views

Ich bin 22. Für meine Identität liegt eine Fremd- und eine Selbstbezeichnung vor. Die Fremdbezeichnung heißt Gammler. Die Selbstbezeichnung Hippie. Ich bin gegen das Establishment und ich bin unkorrumpierbar antiautoritär. Das ist ohne Zweifel ein heroisches Selbstbild. 1973 werde ich Mitglied einer Partei, die im Inneren die Idee des Antiautoritären nicht realisiert, nicht einmal realisieren will, weil ihr Organisationsmodell, der so genannte demokratische Zentralismus, von einem Oben und Unten ausgeht. Was treibt einen Hippie in die KP? Was lockt einen LSD-Konsumenten in eine proletarische Partei? Dass ich meine Poren beim Ein- und Ausatmen, beim Einsaugen der Luft nur sehen kann, wenn ich im LSD-Rausch bin, vermag ich nur Freunden und Freundinnen außerhalb meiner neuen politischen Heimat zu sagen. Insofern war die KP keine Sekte im engeren Sinn. Wer sie allerdings als Sekte wollte, dem konnte sie sektengleich einen Kokon bieten. Diese Art Kommunisten lief mir aber selten über den Weg. Ich erlebte die Kommunisten als lebensbejahende Menschen, die den Brauch des Lepschi-Gehens mehr als ich pflegten. Die meisten Genossinnen und Genossen meiner Generation hielten es länger im Wirtshaus aus als ich, vertrugen mehr Bier als ich und kannten mehr Lieder als ich, und weil ihr Repertoire nicht nur aus den Liedern der Arbeiterbewegung bestand, sondern auch Pop und Volkslied umfasste, kamen sie dem Volk, das noch nicht mit dem Bewusstsein seiner Lage erfüllt war und das die Begriffe Arbeitnehmer und Arbeitgeber ganz ohne die mit beiden Zeige- und Mittelfingern gestikulierten Anführungszeichen verwendete, näher als ich. Ich werde noch viel später Menschen, die die beiden Begriffe nie ohne diese Geste verwenden, von den anderen unterscheiden, die ich für angepasst halte. Wie jemand mit den Wörtern Arbeitgeber und Arbeitnehmer umgeht, wird für mich ein Kriterium sein, bis wir uns die Sprache zurückerobern, und das werde ich nicht mehr erleben. Aber ich bin 22, und in diesem Alter bin ich mir sicher, dass unsereins im Leben noch mehr erobern wird als bloß die Sprache.

17 Jahre lang werde ich in der Partei bleiben, die Hälfte davon als das, was ich in der zweiten Hälfte Parteisoldat nennen werde. Es ist kein besonders soldatisches Parteisoldatentum, denn ich lebe weiter mit meinen Träumen.

Es gibt keine Ambivalenz im Einwirken der Literatur in mein Leben. Doch die Partei macht mich, so deute man die Strophe, weltnah und weltfremd zugleich. Sie hebt mich aus der Welt, hinein in eine Scheinwelt. In Sachen Weltfremdheit führen die Wachturm-Verkäufer überlegen, nach ihnen kommt lang nichts, dann die Partei, ich meine die kommunistische. Ich bin heute 22. Ich werde erstaunt sein, wie sektenkompatibel ich auch zehn Jahre später noch bin, und zwar freiwillig. Ich werde mir den roten Volksstimme-Verkäufermantel holen und, so wird mir nochmals zehn Jahre später bewusst werden, in den Augen meiner Kundinnen und Kunden weltfremder wirken als das Jehova-Material, das auch dann nicht Fleisch und Blut wird, wenn der lautlos fromme Job getan und die Missionare in ihr „Privatleben“ genanntes Unleben gleiten.

Er weiß, dass die Idee des Zentralorgans einer früheren Zeit angehört, keineswegs unserer. Heimlich lächelt er wohl über die Disziplinierung junger KPÖ-Mitglieder; er hat keine Vorstellung davon, wie eine Selbstdisziplinierung zu ähnlichen Ergebnissen führt. Und heimlich lächelt er über die rote Volksstimme-Uniform, die er den Kolporteuren aushändigt, wider sein Gefühl.

Eine seltsame Mischung von Unterordnung und Skepsis, von Einverständnis und Querulanz prägt meine Beziehung zur Partei. Ich bin 33. Ich, der Antibürokrat, bin blind für die totalitären Tendenzen der Bürokratie in den Ländern, in denen „das Volk die Macht schon hält“, wie es in einem Degenhardt-Song heißt. Alle Freundinnen und Freunde kennen Westberlin. Ich kenne nur „Berlin, Hauptstadt der DDR“. Möglicherweise werde ich in meinem weiteren Leben keinen Fuß in den Westteil der Stadt setzen. Auch in den Ostteil nicht mehr. Weil ich dann lieber im Waldviertel, am Grundlsee oder auf einer dalmatinischen Insel Urlaub mache. Mit 33 aber bin ich DDR-Fan.

Bis ich 33 geworden bin, hatte ich genug Zeit, die Wunschväter, die mich vom realen Vater wegrissen und in die große Stadt lockten, von allen Seiten zu betrachten. Die Wunschväter sind Patriarchen und sie lachen über Schwule und sie wollen am Sonntag nicht gestört werden und sie lieben deutsche Schäferhunde, die Hunde ihrer Peiniger in den Konzentrationslagern.

1983 reise ich mit einer Delegation der Wiener Stadtleitung ins sowjetische Moskau, für mich immer noch eine Traumdestination wie später das chaotische Neapel. Gastgeberin ist die Moskauer Stadtparteileitung. Trotz meiner Teilnahme ist die Wiener Delegatija in Summe hochrangig. Ich fühle mich nicht wohl unter Gastgebern und Gästen. Ich hasse es, wenn ich bei den allnächtlichen Trinkspruchritualen an die Reihe komme, um nach der Toastplattitüde einmal mehr das Wodkaglas zu leeren. Eine Folter: nach zwanzig Platitüden eine zu erfinden, die noch nicht abgespult ist. Ich komme immer an die Reihe. Aus Parteidisziplin darf man sich nicht verweigern. Absurder Wettkampf. Ganz deutlich bin ich der Outsider der Wiener Delegation. Als lebendiger, zweifelnder Mensch unter Apparatschiks. Auch Mimi Kreutzer ist aus meiner Perspektive eine Frau des Apparates: Mitglied des Zentralkomitees. Apparatschiks sind nach meiner Definition bedeutsame Parteiangestellte, die, um ihre Existenzberechtigung zu beweisen, die Selbstorganisation der Mitglieder, die nicht in der Partei angestellt sind, nicht wirklich aufkommen lassen dürfen. So sehr wir in Moskau das einheitliche rotweißrote Team spielen, so sehr werde ich daheim in Wien meine Mitreisenden bekämpfen, nehme ich mir bei einer dieser bolschewistischen Saufzeremonien inhaltlich vor. Am letzten Tag des Moskaubesuchs wird der österreichischen Delegation stolz die aktuelle Coverseite des „Moskauer Abend“, so heißt die Tageszeitung der Stadtpartei, überreicht. Die hochrangige Wiener Delegation auf dem Roten Platz. Das Foto nimmt fast die ganze Titelseite ein. Ich glaube, nicht richtig zu sehen, Die Genossin Kreutzer ist mit zierlichen Beinen abgebildet. Zwei Drittel des Umfangs ihrer Unterschenkel – die Beine der Genossin Kreutzer sind voller Wasser – hat die Fotoredaktion im Auftrag des sozialistischen Realismus wegretuschiert. Ich wage einen heimlichen Blick zu Genossin Mimi Kreutzer. Sie tut so, als habe sie die Manipulation nicht bemerkt. In diesem Augenblick liebe ich das Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Österreichs, Genossin Mimi Kreutzer. Ich werde darüber kein Aufheben machen. Aber mich stört´s. Ich bin um die 50. Es stört mich, kein Aufhebens gemacht zu haben. Diese Zurückhaltung muss aufgehoben werden, begreife ich mit 50. Zu spät, es wird keine Stadtleitung der KPÖ Wien jemals mehr von der Stadtleitung der KPDSU Moskau mit entsprechender Menge an Wodka-Vorrat eingeladen werden. Es sei denn, von Kurt Palm als Kunstperformance realisiert.

 

By Galina Toktalieva

Author, photographer